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dass ungefähr ein drittel derselben technische, veraltete oder rein litterarische wörter sind, die vom durchschnittsgebildeten niemals gebraucht werden.

Von den dem gebildeten geläufigen anderen zwei dritteln wird einem knaben oder mädchen von 14 jahren und den ungebildeten im günstigsten falle das eine drittel bekannt sein, während die beiden anderen drittel ihnen noch gänzlich fremd und unverständlich sind. Der wortvorrat eines schülers von 10 jahren wird naturgemäss noch weit geringer sein und kaum 6000 wörter betragen; dieser letztere sprachschatz befähigt das 10 jährige kind sich über alle vorkommnisse des alltäglichen lebens zu verständigen; für den täglichen bedarf wird auch der gebildete mit 6000 wörtern auskommen, so dass man diese zahl als den grundstock für den sprachlichen alltagsverkehr bezeichnen. kann. Auf grund dieser ergebnisse lässt Gouin den sprachunterricht in drei kurse zerfallen, von denen jeder bei 4 stunden die woche in einem jahre bequem beendet sein soll. Der erste jahreskursus ist für 10-14 jährige schüler berechnet und hat den sprachlichen grundstock des täglichen verkehrslebens zu vermitteln. Im zweiten jahreskursus ist das früher gelernte soweit zu vertiefen und zu vervollständigen, bis der wortvorrat eines durchschnittsgebildeten erworben ist; auf grund der im ersten jahre gewonnenen sprach fertigkeit haben lehrer und schüler beim unterricht sich ausschliesslich der fremdsprache zu bedienen. Der dritte jahreskursus setzt dem sprachlichen wissen und können die krone auf, indem alles noch fehlende, fachwissenschaftliches und hochlitterarisches, sprachmaterial verarbeitet wird. Wie man sieht, bezwecken die 3 jahreskurse eine erweiterung des sprachwissens nach art dreier sich konzentrisch erweiternden kreise. Als das geeignetste schüleralter wird für die drei kurse das 10., 14., bez. 21. lebensjahr bezeichnet.

Eine genauere betrachtung des sprachlichen grundstocks lehrt, dass sich hier zwei grosse gruppen von wörtern unterscheiden lassen: die eine gruppe begreift diejenigen wörter in sich, welche sich mit den erscheinungen der aussenwelt, dem non ego, befassen; solche wörter sind haus, tisch, stuhl, strasse, schmiede u. s. w.; die andere gruppe enthält alle diejenigen wörter, welche das ego, das geistesleben, betreffen, wie es in gefühlen, urteilen und erwägungen bezüglich der erscheinungen

der aussenwelt zum ausdruck kommt, so z. b. hoffen, fürchten, ärger, schmerz, denken, glauben, meinen, ansicht u. a. m. Die erstere gruppe kann man die objektive sprache nennen, da sie äussere gegenstände oder vorgänge, die mit solchen gegenständen verknüpft sind, behandelt. Die zweite gruppe wird mit rücksicht auf die rolle, welche das ego, der geist des beschauers darin spielt, als subjektive sprache treffend bezeichnet.

Gehen wir auf die objektive sprache etwas näher ein, so finden wir innerhalb ihres bereichs wiederum eine reihe von kleineren gruppen (séries); die wörter schmied, eisen, hammer, ambos, rotglühend, hämmern, schmieden, hufeisen u. s. w. gehören zur serie „der schmied“; andere wie schiff, segel, wind, steuerruder, riemen, netz, auswerfen, fisch, fangen u. v. a. bilden einen bestandteil der serie „der fischer"; wieder andere, wie jäger, gewehr, schiessen, jagen, jagdhund, rebhuhn, hase, hirsch, zielen, treffen u. a. m. fallen unter die serie „der jäger". Und so wird weiter zu gruppiren sein, bis der gesamte bestand der objektiven sprache in natürlicher, psychologischer weise eingereiht ist. Einige wörter werden sich in mehreren serien wiederfinden, die meisten aber nur an einer einzigen stelle ihren richtigen platz haben.

Die obigen drei kleineren gruppen oder spezialserien fallen unter gewisse generalserien. Gouin unterscheidet fünf solcher generalserien, die den gesamten objektiven sprachbestand enthalten sollen: es sind

1. generalserie DAS HAUSWESEN, mit folgenden spezialserien: ortsbewegung, kleidung, wasser, feuer, ernährung, heizung; die gewöhnlichen arbeiten im haushalt; hühnerhof, stall, gemüsegarten.

2. generalserie DIE GESELLSCHAFT, mit den spezialserien: stellung und thätigkeiten des menschen in der gesellschaft, verschiedene phasen des lebens; schule, kirche, kriegsdienst, spiele, feste; krankheiten.

3. generalserie IN DER FREIEN NATUR, mit folgenden spezialserien: schäfer, jäger, fischer, schnitter, pflüger, müller, bäcker; wiesen, obstgarten, weinberg, garten, wald; gewerbe, die mit dem ackerbau verknüpft sind.

4. generalserie HANDWERK, mit den spezialserien: schneider, schuster, hutmacher und andere handwerke und industrien, die sich auf die kleidung beziehen; tischler, bauschreiner, schlosser, maurer und andere auf das bauhandwerk bezügliche gewerbe und industrien.

5. generalserie WISSENSCHAFT, mit den spezialserien: elemente und naturkräfte; mineralien; pflanzen; tiere; raubtiere, säugetiere, haustiere, nagetiere; landvögel (raub-, kletter-, singvögel); wasservögel; fische; amphibien; reptilien; insekten

u. S. W.

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Jede spezialserie umfasst nach Gouin einige 50 übungsstücke (thèmes, exercices), wie wir oben eines angeführt haben („Der jäger schiesst ein rebhuhn“). Dass jedes übungsstück 18-27 sätze enthält, wurde bereits erwähnt. Der ganze verfügbare wortschatz der objektiven sprache lässt sich demnach bei der annahme von 50 spezialserien in rund 50 50 = 2500 übungsstücken oder 50 × 50 × 20 = 50 000 sätzen unterbringen; so meint Gouin. Seine londoner jünger halten dafür, dass Gouin übertrieben hoch gerechnet habe; sie glauben die ganze objektive sprache in 500 übungsstücken vorführen zu können, obgleich sie ein abschliessendes urteil erst fällen wollen, wenn sie die aufstellung ihrer serien beendet haben. Sollte die londoner schule recht behalten was etwas zweifelhaft erscheinen muss würde der studiengang nach den londoner serien hinsichtlich seiner länge nur ein fünftel des von Gouin selbst gegebenen betragen eine ganz hervorragende kürzung! Dass die londoner alles aufbieten, das beste zu leisten, dafür bürgt der bewundernswert praktische sinn und die tiefe sachkenntnis des Gouinschülers Bétis.

SO

Es wurde bereits darauf hingewiesen, dass die geistesthätigkeit des menschen sich nicht ausschliesslich darauf beschränkt, die erscheinungen und vorkommnisse in der ihn umgebenden aussenwelt zu registriren oder zu beobachten. Nein, der mensch beschäftigt sich auch im geiste damit, würdigt sie, ist mit diesem einverstanden, mit jenem nicht, billigt dieses, missbilligt jenes, glaubt das eine, bezweifelt das andere; kurz, die formeln für den ausdruck unserer geistesthätigkeit, unserer gefühle und urteile bilden einen ganz beträchtlichen bestandteil unseres sprachgewebes;

sie entsprechen etwa dem mörtel, der die bausteine zusammenhält. Ohne diese formeln Gouin nennt sie bekanntlich die subjektive sprache, auch die relativ- oder verbindungsphrasen wäre der besitz der objektiven sprache etwas halbes. Gouin hat sehr lange hin und her geforscht und überlegt, bis er die frage, wie die relativen redewendungen in ein festes system zu bringen seien, als gelöst erachten konnte. Die ausführlichsten wörterbücher und eine reihe klassischer meisterwerke hat er daraufhin exzerpirt und nicht weniger als 60000 solcher phrasen gesammelt. Es ist ihm jedoch gelungen, diese riesenmenge auf bestimmte gruppen zurückzuführen und mit den serien über die objektive sprache in beziehung zu setzen, daher die benennung relativ"oder verbindungsphrasen. Im verlauf seiner forschungen fand Gouin, dass diese zwischenphrasen zunächst in zwei grosse hauptgattungen zerfallen. Die vertreter der einen gattung sind vollkommen in sich abgeschlossene sätze, welche ein bestimmtes urteil fällen oder bestätigen, so z. b. „das ist wahr; ganz recht so; ich bin zufrieden; du hast deine sache gut gemacht" u. dgl. Solche sätze nennt Gouin absolute relativphrasen.

Die andere gattung umfasst die sog. enklitischen relativphrasen, worunter hauptsätze zu verstehen sind, die ohne einen untergeordneten nebensatz keinen befriedigenden abschluss haben; sie „lehnen“ sich sozusagen „an" den sprachlichen ausdruck eines zweiten faktums, das als notwendige ergänzung zu erwarten ist. Die verbindung dieser beiden in einem gegenseitigen abhängigkeitsverhältnis stehenden teile ergibt ein satzgefüge, welches Gouin als modalphrase bezeichnet (s. 392 franz. ausgabe, s. 284 engl. ausgabe). Die enklitischen relativphrasen sind stets unvollendete ausdrücke der willensäusserung, des meinens, des fühlens, des bestrebens und dgl., sie spiegeln die sämtlichen geistesthätigkeiten wieder. Der erste teil folgender beispiele ist jedesmal ein derartiger enklitischer relativsatz: „Ich hoffe, du kannst die zeitwörter wiederholen; es thut mir leid, zu sehen, dass du einen fehler gemacht hast; versuche, die schwierigkeit zu überwinden; es ist deine pflicht, deutlich zu sprechen; wenn du einen fehler machst, so lass dich das nicht beirren; dein gedächtnis wird täglich besser“, und dgl.

Um die zahlreichen verbindungsphrasen in ein geordnetes system zu bringen, geht Gouin von folgenden psychologischen

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erwägungen aus: Jede geistesthätigkeit macht mehrere entwickelungsstufen, phasen oder zustände durch. Glaube, gewissheit, ungewissheit, zweifel, hoffnung u. a. sind z. b. verschiedene zustände der geistesthätigkeit „meinen"; ebenso lässt sich die geistige thätigkeit des wollens" in mehrere zustände oder regungen zerlegen, wie in liebe, hass, wunsch, widerwillen, entschluss u. s. w. Gouin nimmt zwölf solcher geistes- oder seelenthätigkeiten an und räumt jeder derselben zwanzig verschiedene zustände oder schattirungen ein, was nach seiner meinung eine übertrieben grosse anzahl sei; hiernach würden sich die enklitischen verbindungsphrasen auf 12 20 240 belaufen, von denen die übrigen nur gleichbedeutende abarten sind. Dem 5jährigen kinde stehen kaum 200 solcher phrasen zu gebote, und es kann sich mit ihrer hülfe doch vollkommen klar ausdrücken. In Vergils Äneide kommen keine 300 verschiedene enklitische phrasen vor, ein beweis dafür, dass man sich mit den besagten 240 ohne mühe verständigen kann.

Die aneignung vollzieht sich geradezu spielend, wenn die phrasen auf die einzelnen objektiven übungsstücke so verteilt werden, dass zwischen den objektiven und subjektiven (relativen) sätzen eine geistige beziehung besteht. Die praktische zuführung wird im zweiten teil gelegentlich an einer ausgeführten lehrstunde veranschaulicht.

Mit der zuführung der objektiven und subjektiven sprache aber ist es noch nicht genug. Aus der verbindung beider entsteht nämlich eine ausdrucksweise, deren wir uns in gewöhnlicher und besonders in gewählter rede auf schritt und tritt bedienen, vielfach allerdings ohne uns dessen bewusst zu werden: ich meine die bildliche sprache oder figürliche ausdrucksweise (langage figuré). Eine neue sprache mit einem neuen wortschatz ist es nicht, sondern die objektiven sprachformen werden in den dienst der abstraktbegriffe gestellt und vermitteln auf diese weise eine art vorstellbarkeit der letzteren. Im schlamme versinken“ ist objektive ausdrucksweise, „im laster versinken“ figürliche. An sich sind alle abstraktbegriffe ohne äusserlich wahrnehmbare form; es lässt sich erst dann ein bild davon machen, wenn sie mit den erscheinungen der aussenwelt in beziehung treten, was durch direkte einwirkung auf die aussenwelt

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