Page images
PDF
EPUB
[blocks in formation]

„Na! Schon wieder eine neue methode?" so höre ich den einen oder anderen fachgenossen skeptisch bei sich sagen. Ja, lieber leser, neu und auch wieder nicht! Neu für die grosse mehrheit der sprachbeflissenen aller länder, durchaus neu auch. hinsichtlich ihres wesens, nicht neu, im gegenteil schon ziemlich alt, aber, insofern sie bereits seit 15 jahren im druck vorliegt u. d. titel L'art d'enseigner et d'étudier les langues, par FRANÇOIS GOUIN, Paris 1880. Der verf. hat das ca. 500 seiten starke werk eigenhändig gesetzt und eine verhältnismässig beschränkte anzahl exemplare auf seine kosten abziehen lassen, und zwar lediglich deshalb, weil er keinen verleger dafür finden konnte. Es kann daher nicht wunder nehmen, dass das buch dem grössten teile der pädagogischen welt bisher unbekannt geblieben ist. Neun jahre nach dem erscheinen fiel einem englischen elektrotechniker, hrn. Howard Swan, als er die letzte pariser weltausstellung besuchte, rein zufällig ein exemplar des werks in die hände. Wie hr. Swan mir persönlich erzählte, fesselte der inhalt des buches ihn ganz ausserordentlich. Während seines pariser aufenthalts lernte Swan durch zufall einen begeisterten ehemaligen schüler Gouins, den hrn. Victor Bétis, einen geborenen pariser, kennen, der die eigentümlichkeiten des werkes so geschickt zu beleuchten verstand, dass Swan bald auf den vorschlag einging, das französische original in gemeinschaft mit Bétis ins englische zu übersetzen. Diese arbeit. erfolgte in den beiden nächsten jahren. Aber die bedeutendsten.

Die Neueren Sprachen. Bd. III. Heft 1.

1

der londoner verleger lehnten die herstellung und den vertrieb der englischen ausgabe ab. Erst nach langem suchen fand sich endlich eine verlagshandlung, die firma George Philip & Son in London, zur veröffentlichung bereit. Im mai 1892 war der druck vollendet, und gleichzeitig mit der ausgabe der ziemlich wortgetreuen übersetzung, brachte die weit verbreitete Review of Reviews (nummer vom 15. mai 1892) einen umfangreichen aufsatz über das werk und das darin entwickelte lehrverfahren. Der aufsatz ist überschrieben: How to Learn a Language in Six Months; or, A Royal Road to Foreign Tongues. Der verfasser desselben ist hr. W. T. Stead, ein bekannter journalist und herausgeber genannter monatsschrift, ein mann, der jedem fortschritt auf allen gebieten des wissens in liberalster weise die spalten seines blattes zur verfügung stellt. Gleichzeitig teilte hr. Stead mit, dass er seine 5 kinder, von denen das jüngste damals 8 und das älteste 17 jahre alt waren, dem herrn Bétis als versuchsobjekte behufs erlernung des französischen anvertraut habe. Hr. Bétis erteilte den Steadschen kindern täglich 2 stunden, dem jüngsten 1, und genau nach 6 monaten fand vor einer aus etwa einem halben dutzend kompetenter persönlichkeiten zusammengesetzten kommission die prüfung statt. Diese letztere verlief wider alles erwarten günstig, wie aus einem ausführlichen protokoll in der nummer der Review of Reviews vom 15. jan. 1893 zu ersehen ist.

Die artikel in Steads zeitschrift verfehlten nicht, eine tiefgehende wirkung auf die englischen und amerikanischen unterrichtskreise zu üben. Die tages- und fachpresse beschäftigte sich alsbald ebenfalls mit dem gegenstande, und die englische ausgabe des Gouinschen buches fand reissenden absatz: 4 starke auflagen wurden in 12 monaten verkauft.

Während so die methode Gouin ihren siegeszug durch England und die Vereinigten Staaten hielt, wurde derselben in ihrem heimatlande Frankreich kaum, in Deutschland nur sehr vereinzelt gedacht, so i. j. 1881 von Samuel Brassai, der in seinem ziemlich

'The Art of Teaching and Studying Languages by François Gouin. Translated by Howard Swan and Victor Bétis. London, George Philip & Son, 32, Fleet Street, 1892. XXIII, 407 pages. 7 s. 6d. (7. auflage in vorbereitung).

unbekannt gebliebenen schriftchen Die reform des sprachunterrichts in Europa: ein beitrag zur sprachwissenschaft (Kolozsvár 1881) die damals eben erschienene französische originalausgabe besprach. Seitdem hat man sich bei uns nicht mehr mit der methode Gouin befasst, bis endlich professor Vietor-Marburg in seinen Phon. Stud. VI 2, s. 251-56 und VI 3, s. 347–62 über die methode Gouin in England" berichtete, indem er bruchstücke aus den beiden Steadschen artikeln, sowie aus anderen englischen fachzeitschriften mitteilte, hie und da einige treffende randbemerkungen hinzufügend. Endlich haben die N. Spr. 13 (s. 190/91) und I 5 (s. 301/2) „Gouin in Frankreich" einige wenige zeilen gewidmet. Das ist meines wissens alles, was in Deutschland über die methode Gouin geschrieben worden ist. Auffallenderweise haben sich unsere übrigen neusprachlichen fachzeitschriften bisher darüber gänzlich ausgeschwiegen. Drum ist es niemand zu verargen, wenn er über das wesen der nunmehr schon 15 jahre gedruckt vorliegenden methode Gouin noch im unklaren ist.

Bis vor zwei jahren befand ich mich in derselben lage. Da gelangte durch die liebenswürdigkeit eines englischen freundes und früheren kollegen der erste Steadsche aufsatz und ein exemplar der damals grade ausgegebenen Swan-Bétisschen übersetzung in meinen besitz. Meine damaligen bemühungen um ein exemplar des frz. originalwerks blieben erfolglos; wie mir hr. Gouin, an den ich mich schliesslich wandte, mitteilte, war die 1. aufl. vergriffen, ein neudruck aber bevorstehend.

Mit spannung machte ich mich an das studium der engl. ausgabe, legte indes das buch bald beiseite, da mich Gouins darlegungen nicht im mindesten überzeugen konnten. Das buch kam mir vielmehr vor wie das erzeugnis eines utopistischen schwärmers.

In der nummer vom 15. sept. 1892 befasste sich die Review of Reviews wieder mit der methode Gouin und berichtete über die fortschritte, welche Steads kinder in den ersten drei monaten gemacht hätten. Aber dieser bericht konnte mich ebenso wenig für das hochgepriesene neué lehrverfahren begeistern, wie die

1 Dieser neudruck ist im juni 1894 zur ausgabe gelangt. Imprimerie A. Bellier et Cie., 7, rue Baillif, Paris. XII u. 543 s. 8°. Preis 5 fr.

briefe meines befreundeten engländers, welcher einen vortrag über das system gehört und infolgedessen eine gewisse neigung zu demselben gefasst hatte. Erst der bereits erwähnte ausführliche Steadsche prüfungsbericht in der januar - nummer seiner Review und die geradezu erstaunlichen resultate, welche Bétis mit den kindern erzielte, veranlassten mich, das buch von neuem durchzuarbeiten. Aber trotz intensiven studiums und trotz auszugsweiser notizen gelangte ich nicht zu einem klaren urteil über den wert oder unwert der methode. Wie ich später erfuhr, ist es mir nicht allein so ergangen; nein, alle, sogar Swan, gestanden mir, dasselbe sei bei ihnen der fall gewesen. Die Gouinsche darstellung ermangelt nämlich der durchsichtigkeit: schlechte disposition, ständige wiederholungen, grosse weitschweifigkeit, hochklingende, wenig sachgemässe lobpreisungen des systems, ausfälle gegen die bisherigen lehrweisen, allerhand willkürliche abschweifungen vom eigentlichen gegenstande und ähnliche stilistische unebenheiten treten dem leser auf schritt und tritt störend in den weg und hindern ihn, sich ein klares bild von dem wesen der methode Gouin zu verschaffen.

Angesichts dieser thatsachen begrüsste ich es im sommer 1893 gelegentlich eines ferienaufenthalts in London mit freude, dass, wie eine durch mehrere blätter gehende ankündigung besagte, im september in London ein 10 tägiger training course unter leitung von Bétis und Swan abgehalten werde. Ich setzte mich mit den beiden herren in verbindung, erlegte den honorarbetrag (3 guineen) und machte den kursus theoretisch und praktisch mit durch. Einige zwanzig ältere und jüngere damen und herren unseres fachs, darunter engländer, schotten, amerikaner, norweger (u. a. der bekannte norweger K. Brekke in Hamar), italiener, franzosen und ein birmane, nahmen ebenfalls teil. Swan gab seiner verwunderung darüber ausdruck, dass sich Deutschland bisher so wenig für die Gouin - methode zu interessiren scheine, und dass ausser mir noch kein deutscher, weder an diesem, noch an einem der fünf früheren lehrerbildungskurse teilgenommen habe.

Der kursus verlief zu unser aller vollster befriedigung. Die sorgfältig durchdachten vorträge Swans, und insbesondere die mit grossem geschick geleiteten praktischen übungen des geistvollen Bétis, eines ehemaligen schülers von Gouin, ergänzten sich

[graphic]

so glücklich, dass nach beendigung des kursus bei keinem der teilnehmer über den ausserordentlich hohen wert und über die handhabung der methode irgendwelche zweifel mehr herrrchen konnten.

Es interessirte mich naturgemäss, zu sehen, wie sich die methode Gouin im unterricht an höheren lehranstalten bewähren würde. Ich liess mir daher die gelegenheit nicht entgehen, an zwei englischen höheren schulen, in denen nach Gouinscher methode unterrichtet wird, zu hospitiren, und ich kann nicht umhin, zu gestehen, dass mir der lehrbetrieb durchaus zusagte, indem er einerseits nicht nur das interesse der schüler in hohem grade anspannte, sondern andrerseits auch überraschend befriedigende erfolge zeitigte.

Nachdem ich mir so auf grund des ausbildungskursus (in welchem ich auch probelektionen abgehalten habe), sowie aus eigener wahrnehmung in schulen ein klares urteil über die methode Gouin das serien-system, wie Bétis und Swan lieber sagen gebildet zu haben glaube, will ich im folgenden, auf mehrseitige anregung hin, versuchen, eine fachgemässe darlegung des systems in theorie und praxis zu geben. Meine leser werden dadurch der dornenvollen mühe überhoben, die theorie der methode nach der recht umfänglichen und verworrenen französischen oder englischen ausgabe des Gouinschen werkes zu studiren. Ausser diesen beiden büchern habe ich andere schriften Gouins und die erschienene Gouin-litteratur, soweit solche mir zugänglich war, berficksichtigt.

Ich bemerke noch, dass ich im wesentlichen nur referire, ohne mit Gouin in allen punkten durch dick und dünn zu gehen. Immerhin aber ist meine arbeit keine freie übertragung, sondern eine vollständige umarbeitung des originalwerks. Nicht unmöglich, dass, trotz meines strebens nach klarer darstellung, für den einen oder andern fachgenossen hie und da unklarheiten untergelaufen sind, die ich auf an mich ergehenden wunsch mit vergnügen aufhellen werde.

« PreviousContinue »