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Erster teil.

DIE METHODE GOUIN IN DER THEORIE.

1. abschnitt.

LEITENDE DIDAKTISCHE GRUNDSÄTZE ALLGEMEINER NATUR.

Welcher ehrliche alt- wie neusprachliche lehrer hätte nicht. insgeheim das gefühl, dass die ergebnisse des schulmässigen sprachunterrichts im vergleich zu dem ungeheueren aufwand an zeit und arbeit geradezu kläglich sind? Sind doch die mit der wissenschaftlichen reife entlassenen zöglinge unserer höheren lehranstalten jedweder gattung mit verschwindend geringen ausnahmen ausser stande, auch nur zehn zeilen französisch fehlerfrei und sinngemäss zu lesen und ohne hülfe des wörterbuchs gut zu verdeutschen! Von annähernd leidlichem freien gebrauch des französischen im mündlichen und schriftlichen gedankenaustausch kann bei ihnen ebenfalls kaum die rede sein. Und das ist die frucht einer sechs- bis neunjährigen ernsten arbeit in 13-1600 schul- und 6-800 häuslichen vorbereitungsstunden! Kein wunder, dass die überzahl der neusprachlichen lehrer, denen es die verhältnisse nicht gestatten, sich ein halbes jahr oder länger im fremden lande zu bewegen und mit gebildeten eingeborenen lebendigen verkehr zu pflegen, eingestandenermassen in peinliche verlegenheit kommen, wenn es gilt, sich an einer ungezwungenen unterhaltung über die alltäglichsten gesprächsgegenstände zu beteiligen, oder einen leidlich idiomatischen brief zu schreiben!

Man findet zwar stellenweise noch die ansicht vertreten, der fremdsprachliche unterricht habe überhaupt keinen selbstzweck zu verfolgen, sondern er müsse mittel sein zum zweck logischer schulung des jugendlichen geistes, und hierzu genüge auch ein lehrer, der im praktischen gebrauch der sprache lücken zeige; es sei nicht die aufgabe der schule, perfekte franzosen und engländer heranzubilden. Nun, zunächst ist logische schulung zweck jedes schulunterrichts; am sichersten lässt sich dieselbe n. m. m. durch das studium der mathematik, naturwissenschaften und geschichte erzielen. Auch die anderen lehrfächer können an ihrem teile dazu beitragen, aber der alte satz, dass gerade das auswendiglernen von vokabeln, grammatischen regeln und tabellen, sowie die versuche der übersetzung aus dem deutschen in

die fremdsprache das hervorragendste mittel seien, um zu logischem denken anzuleiten, hat doch wohl bei allen selbständig denkenden den kredit verloren und wird auch von den verbissensten vertretern der altgymnasialen richtung kaum noch ernstlich verteidigt.

Wenn nun weiterhin auch zugegeben werden soll, dass die schule nicht die aufgabe hat, ihre zöglinge zu perfekten franzosen und engländern auszubilden, so stimmen doch die einsichtigen pädagogen darin überein, dass es pflicht der schule ist, der ihr anvertrauten jugend einen möglichst reichen schatz nicht theoretischen, sondern für die späteren lebensaufgaben wirklich brauchbaren wissens in der betr. fremdsprache mitzugeben. So verlangt es die würde des fachs, so verlangen es die lehrpläne, so erwartet es - leider meist vergebens das elternhaus. Man höre doch nur die stereotypen klagen ehemaliger schüler und selbst der abiturienten unserer höheren lehranstalten! Sie bedauern durchgehends die lange, kostbare zeit, welche sie mit widerwillen auf aneignung theoretischen und abstrakten wissens verwenden mussten, ohne es auch nur so weit gebracht zu haben, einen der klassischen schulschriftsteller ohne schwierigkeit lesend zu verstehen, geschweige denn sich in der fremden sprache mündlich und schriftlich annähernd zu verständigen.

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Worin aber sind die gründe für solch bedauerliche erscheinungen zu suchen? Vielleicht in der trägheit des schülers oder in der unfähigkeit des lehrers? Gewiss nicht!

Gouin ist dieser frage näher getreten, und er hat das problem m. e. gelöst, indem er uns nicht nur die gründe des misserfolgs angibt, sondern auch den weg zeigt, um es ohne hintansetzung des allgemeinen bildungswertes auch in wissenschaftlicher und praktischer hinsicht auf dem gebiete des fremdsprachlichen studiums zu etwas wirklich tüchtigem zu bringen. Nach Gouin ist die quelle alles übels darin zu suchen, dass wir es versäumt haben, die methode der grossen lehrmeisterin natur za studiren.

Und wie verfährt mutter natur? Wie lernt ein kleines kind seine muttersprache? Man beobachte das kind, wie es bei einer ihm neuen wahrnehmung erstaunt dasteht und seine mutter oder begleitung sofort um erklärung angeht, die ihm auch stets in bündiger und treffender form gegeben wird. Das kind also

sieht die thätigkeit (den vorgang, gegenstand) und hört den oder die laute, durch welche das wahrgenommene sprachlich zum ausdruck gebracht wird. Infolge des interesses nun, welches das kind an dem geschauten vorgang (der thätigkeit, der handlung, dem ereignis, dem gegenstande, oder wie die bezeichnung sein möge) bekundet, prägt sich die gehörte sprachliche benennung, der laut, seinem geiste tief ein beides, vorgang und laut, treten in der vorstellung des kindes in eine unzertrennliche geistige verbindung mit einander; mit anderen worten, beim jedesmaligen hören des lautes schweift die kindliche vorstellung hinüber zu dem gegenstande (vorgang u. dgl.), und umgekehrt bei der nachträglichen erneuten wahrnehmung des vorganges verbindet es damit unwillkürlich den ihm bereits von früher bekannten laut, die sprachliche bezeichnung in seiner muttersprache. Im weiteren verlauf der entwickelung nimmt das kind komplizirte vorgänge, die sich aus mehreren einzelvorgängen zusammensetzen, wahr, und es hört gleichzeitig die sprachlautliche benennung derselben u. s. w., u. s. w.

Welches ist also das rezeptive organ, mit dem das kind seine sprache erlernt? Ist es etwa das auge? Weiss das kind, wenn es den vorgang zum erstenmale wahrnimmt, wie derselbe in seiner muttersprache zum ausdruck gebracht wird? Nein. Wüchse das kind z. b. in China unter aufsicht einer chinesin heran, so würde es den geschauten vorgang auf chinesisch zum sprachlichen ausdruck bringen; würde dasselbe kind von einer engländerin erzogen, so würde es denselben vorgang auf englisch ausdrücken, unter einer französin auf französisch, unter einer deutschen auf deutsch. Derselbe vorgang aber präsentirt sich sowohl dem chinesischen, als dem englischen, französischen und deutschen auge und beschauer in genau derselben weise. Hieraus geht klar hervor, dass das auge keineswegs das vornehmste organ der spracherlernung ist. Das auge hat die bestimmung, vorgänge, farben und formen, nicht aber laute wahrzunehmen.

Wer da vermeint, dass eine sprache nur mittels des auges und der hand d. h. durch bücher und schreibübungen zu lernen und zu lehren sei, der wird nie zum ziele gelangen, nie gesprochenes verstehen, sich auch nie sprachrichtig ausdrücken lernen; wäre er auch im stande, lesend zu verstehen und in der

sprache noch so flott und richtig zu schreiben, so ist er doch vollständig unfähig, in der betr. sprache ein lebendiges zwiegespräch mit jemand zu führen, d. h. gesprochenes zu verstehen und sich selbst in rede und gegenrede zu bethätigen. Lässt mutter natur etwa das kind lesen oder schreiben, ja selbst sprechen, bevor es einen ansehnlichen bruchteil der sprache „im ohre hat, also versteht? Und dennoch ist es nach 6 monaten im stande, sich in der sprache, von der es vorher nichts wusste, auszudrücken, mag es ein beschränktes oder gewecktes kind sein.

Wenn somit weder das auge (gesichtssinn) noch die hand (gefühlssinn) das medium der spracherlernung ist, was bleibt dann vom geschmack und geruch dürfte billig abzusehen seinanders übrig als das ohr? L'OREILLE est le premier ministre de l'intelligence, sagte Gouin (s. 194) schon im jahre 1880 und früher sehr treffend; und hierin deckt sich seine auffassung mit der unserer reformrichtung, die es den antireformern nicht oft genug wiederholen kann, dass vom laute auszugehen ist und nicht vom geschriebenen buchstaben! Später erst, nachdem das ohr die fremden laute sicher beherrscht, wenn die sprechorgane dieselben richtig hervorzubringen vermögen, dann erst dürfen als hülfsmedien das auge (lesen) und die hand (schreiben) in ihr recht treten, sie dürfen aber unter keinen umständen von anbeginn die hauptrolle spielen. Wie die erfahrung lehrt, fällt die fähigkeit des lesens und schreibens in der fremdsprache dem lernenden als reife frucht in den schoss vom baume des hörens und der lautlichen wiedergabe des gehörten.

Soviel über den ersten hauptleitsatz, der an sich zwar nicht. ganz neu ist, aber vor der zeit, wo Gouin sein werk veröffentlichte (1880), nirgends mit gleicher überzeugung und konsequenz verfochten wurde.

Der zweite allgemeine grundsatz des systems betrifft das lehren und lernen mittels der anschauung. Scheinbar bewegt sich Gouin auch hier in altem geleise. In wirklichkeit aber unterscheidet sich seine methode hinsichtlich des lehrens auf grund der anschauung wesentlich von allem bisherigen. Während Lehmann, Rossmann-Schmidt u. a. ihr lehrgebäude auf die direkte und durch abbildungen vermittelte anschauung gründen, liegt für. Gouin der urgrund des gelingens nicht in der mit dem

äusseren auge vermittelten, sondern in der GEISTIGEN anschauung, in der représentation intérieure, in der mental visualization, dem mental picture, dem seeing in the mind's eye, wie die engländer sich ausdrücken. Gouin verschmäht es also grundsätzlich, abbildungen zu geben und diese mit fremdsprachlichen benennungen zu belegen. Der lernende soll veranlasst werden, sich selbst ein geistiges bild von dem in rede stehenden gegenstande oder vorgang zu machen, er soll beim hören des fremden lautes sich den gegenstand oder die thätigkeit im geiste, vermittelst des geistigen auges, so lebhaft und deutlich vorstellen, als ob er den gegenstand in der wirklichkeit oder in einer abbildung vor sich sähe kurz, er soll in der fremdsprache DENKEN, ohne sich der krücke des deutschen zu bedienen. Diese forderung ist neu und Gouins ureigenstes geistiges besitztum; vor ihm hat m. w. niemand die geheimnisvolle macht der geistigen anschauung gewürdigt.

Man kann Gouin nicht unrecht geben, wenn er den landläufigen, besonders den in Frankreich und England seither üblichen, sprachlehrmethoden den vorwurf macht, sie assoziirten das geschriebene oder gedruckte wort der zu erlernenden fremden sprache mit dem geschriebenen oder gedruckten worte der muttersprache des lernenden, indem der lernstoff an die tafel geschrieben werde oder der schüler einfach sein lehrbuch aufschlage. Dem ist allerdings noch vielfach so. Nun aber erscheinen dem auge des lernenden wörter, wie z. b. house und horse, die sich in der schrift sehr wenig von einander unterscheiden, so ähnlich, dass er dieselben gerne verwechselt und auf einige schritte entfernung keinen unterschied zwischen ihnen wahrnimmt; sie sind für ihn mehr oder weniger „druckerschwärze auf papier“, während er unter zuhilfenahme seiner geistigen vorstellungsfähigkeit den unterschied zwischen einem house und einem vor demselben stehenden horse sehr deutlich empfindet. Im ersten falle kommt es auf rein mechanisches auswendiglernen zweier durch die schrift zusammengeführten wörter hinaus, während im falle der verbindung des im geiste geschauten bildes mit der durchs ohr wahrgenommenen fremden bezeichnung desselben das denkvermögen und verständnis sich in ganz hervorragender weise bethätigen und schulen.

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