Page images
PDF
EPUB

bestimmte schriftsteller vorgeschrieben sind, sich deshalb in ihrem unterricht beengt fühlen und da nicht frei schaffen können? Es ist doch für die förderung des neusprachlichen unterrichts ein grosses hemmnis, dass so vielerlei werke und schriftsteller gelesen werden; dieser umstand trägt die schuld, dass in unserem neusprachlichen unterricht bis jetzt noch keine geschlossene positive gedankenbildung vermittelt wird, wie es im lateinischen und griechischen der fall ist. Wozu denn all die arbeiten der kanon-kommission, wenn sie nicht auf das ziel hinausläuft, eine bestimmte reihe von werken festzusetzen, die gelesen werden müssen, neben anderen, die gelesen werden können? Wozu denn der beschluss des 9. neuphilologentages in Leipzig, wonach die lektüre für jede schule nach einheitlichen gesichtspunkten festzusetzen sei? Überall haben die neuphilologischen lehrer das gesunde empfinden, dass es so mit der lektüre nicht weiter gehen kann, wo man einfach nach dem blossen gesichtspunkt des interessanten die lektüre auswählt. Wenn einmal bestimmte schriftsteller bezeichnet werden, die gelesen werden, so wird auch das unsere arbeit vereinfachen und wohl auch verbessern. Gerade die kunst der schriftstellerinterpretation, durch welche die schriftsteller dem geist und gemüt der schüler nähergebracht werden sollen, scheint mir im neusprachlichen unterricht noch nicht die bedeutung erreicht zu haben, die ihr gebührt. Ich möchte also beispielsweise wünschen, dass kein schüler, der eine höhere lehranstalt realen charakters absolvirt, dieselbe verlässt, ohne z. b. Molière, Lafontaine, Thiers, Shakespeare, Byron, Dickens näher kennen gelernt zu haben. Ich erlaube mir hier die betreffende these, die ich aufgestellt habe, abzudrucken; ich bin überzeugt, dass sie wenig widerspruch finden wird:

T

Die gesamte lektüre einer anstalt oder auch einer schülergeneration muss ein in sich abgeschlossenes ganzes bilden; daher sind gruppen von werken und zwar möglichst für mehrere stufen zugleich (III-IIb; IIa-Ia) aufzustellen. (Historische werke und dichtungen der klassiker.)

Die verfügung des provinzial-schulkollegiums zu Koblenz über die auswahl der neusprachlichen lektüre (s. Zentralblatt für die unterrichtsverwaltung in Preussen, 1897, s. 253) und die arbeiten der kanonkommission sind als bedeutsame fortschritte auf diesem gebiete zu begrüssen; es scheint jedoch notwendig, dass bestimmte gruppen von werken amtlich als geeignet bezeichnet werden, damit die arbeit der lehrer der neueren sprachen sich auf einzelne werke konzentriren und so die geeignetsten durch gemeinsame erfahrungen im unterrichte erkannt werden. Die jetzigen anweisungen der lehrpläne sind zu allgemein."

Klinghardt macht mir ferner zum vorwurf, dass nach meinen forderungen im neusprachlichen unterricht dem gedankeninhalt des schriftstellers eine alles überwiegende bedeutung zukommen werde.

Hier hat Klinghardt übersehen, was ich s. 5 ausdrücklich gesagt habe, dass ich in meiner abhandlung darauf verzichten müsste, auf die beiden andern wichtigsten aufgaben des neusprachlichen unterrichts einzugehen, nämlich auf die erlernung der fremden sprachen bis zu einer gewissen fähigkeit des freien ausdrucks in derselben, und auf die grammatisch-logische bildung. Von der lektüre verlange ich das, was Klinghardt einführung in volkstum und landeskunde nennt. Ich habe an derselben stelle neben den beiden eben genannten wichtigsten aufgaben des neusprachlichen unterrichts noch als dritte hinzugefügt: endlich die positive bildung durch die lektüre, welche zuerst den schüler in das fremde land, in dessen anschauungen und sitten einführen und so in ihm die vorstellung erwecken soll, dass die neueren völker ein ethisches kulturganzes bilden, die ferner für ihn eine vorschule sein muss für seine ästhetische, ethische und politische bildung und ferner für sein wissenschaftliches denken. Ich glaube, dass man sich auf diese drei forderungen hin leicht einigen kann, sei man nun extremer oder gemässigter anhänger der neusprachlichen reform.

Wenn man sich daran gewöhnte, die methode des neusprachlichen unterrichts und alle anderen fragen desselben aus weiteren, organisatorischen gesichtspunkten aufzufassen, so würden wir lehrer der neueren sprachen eine geschlossenere einheit bilden als jetzt. In erster linie kommt es doch darauf an, zu zeigen, dass der unterricht in den neueren sprachen ebenso oder vielleicht noch mehr als der altsprachliche unterricht geeignet ist, geistige kräfte zu erzeugen und zu bilden; ist das aber erreicht, so muss uns von selber die frucht in den schoss fallen, dass die schulen, welchen in erster linie der neusprachliche unterricht ihre eigenart verleiht, also die höheren schulen realen charakters (realgymnasien, oberrealschulen, realschulen) ganz radikal und ohne jede einschränkung die gleichberechtigung mit dem gymnasium erhalten. Vor dieser frage müssen in unseren tagen alle anderen zurücktreten; haben wir aber einmal den platz in der sonne, der uns gebührt, dann werden wir an manche einzelfragen gehen können, die jetzt noch beiseite liegen müssen. In verschiedenen schriften bin ich für diese gedanken eingetreten. Wenn ich dabei, wie mir Klinghardt für meinen aufsatz wider die methodenkünstelei vorwirft, allgemeine, wohl oft schön, aber auch hohl klingende sätze gebraucht haben soll, so erinnere ich ihn an das bekannte wort: wes das herz voll ist, des geht der mund über. An diese aufgabe, auch den nichtfachleuten zu zeigen, dass der neusprachliche unterricht ein so tiefer und geistbildender sein kann wie nur irgend einer, bin ich mit dem feuer der jugend herangegangen, und noch immer erfüllt sie mich mit glut und leidenschaft; und noch immer pocht mir das herz höher und schiesst mir das blut in den kopf, wenn ich sehe und höre, wie so oft selbst einflussreiche leute in unserem stande mit beleidigender geringschätzung alles betrachten, was mit dem neusprachlichen unterricht

und unseren höheren realen lehranstalten zusammenhängt. Ich kann überdies hier ein wort für mich anführen, das Klinghardt einmal für sich in eigener sache gebraucht hat, nämlich das: Wenn man ein programm aufstellt, dann nimmt man den mund ganz gehörig voll.“ Und das habe ich für mich, wie er für sich gethan.

[ocr errors]

Jeder lehrer der neueren sprachen wird gerne zugeben, dass wir der neusprachlichen reformbewegung mancherlei verdanken; aber darüber darf sich keiner täuschen, dass jetzt eine mächtige reaktion gegen diese bewegung vorhanden ist; das sollten auch diejenigen sich klar machen, die an der spitze der reform stehen. Ich habe oft den eindruck, als wenn sie offiziere ohne truppen seien. Daher einige man sich auf wenige grosse ziele für den neusprachlichen unterricht, die je nach der schulart verschiedene sein mögen, und überlasse die methodische kleinarbeit dem einzelnen lehrer. Vor allem meide man auf beiden seiten die extreme: wie auf der konservativen seite bei uns von dem anspruch abgelassen werden muss, dass grammatische durchbildung und erlernen der fremden sprache bloss durch schreiben und lesen und konstruiren die hauptziele unseres unterrichts seien, so müssen die reformer aufhören, die fähigkeit der freien sprachbeherrschung als das wichtigste ziel unserer arbeit hinzustellen. Das letztere aber muss wie nichts anderes zur verflachung des neusprachlichen unterrichts führen; ebenso wie die übertriebene forderung, dass man in den schulen nur solche schriftsteller lese, die gänzlich in der fremden sprache erklärt werden können. Durch diese extremen forderungen ist die reform eine ernste gefahr für die entwicklung der höheren realen lehranstalten geworden.

Die lehrer der neueren sprachen sind thatsächlich dessen, was ich methodenkünstelei genannt habe, müde; sie sehnen sich wieder nach ruhigem, ja ich darf wohl sagen, nach naivem schaffen und wirken. Es kommt ihnen auch viel weniger darauf an, die methode zu finden, nach welcher man die neueren sprachen am leichtesten lehrt und lernt, als vielmehr diejenige, nach welcher man sie in der geistbildendsten weise lehrt.

"

Ich glaube im vorstehenden nachgewiesen zu haben, dass die vorwürfe, wie unlogisch", unwissenschaftlich", die mir Klinghardt macht, unbegründet sind, mag immer auch die richtung, die Klinghardt für den neusprachlichen unterricht verfolgt, eine andere sein als diejenige, von der ich das heil erwarte.

Bochum.

Dr. WEHRMANN.

ANTWORT.

Wehrmann verfällt in seiner erwiderung

von neuem in den

fehler, den ich schon an seiner programmabhandlung hervorgehoben hatte: er kündigt in der überschrift die absicht an, gegnerische irrtümer

zu bekämpfen, verlässt aber in der ausführung ziemlich bald diesen gedanken, um sich unabhängig davon und mit merklich grösserer breite der entwicklung eigener gedanken zu widmen. So beschäftigen sich in seiner erwiderung", wenn ich recht gezählt, nur 78 zeilen (abs.1 1 bis 3; 4, z. 1-14; 5, z. 1-9; 9) mit der zurückweisung gewisser von mir über W.s abhandlung gefällter urteile; 107 zeilen (der rest des textes der erwiderung“) dagegen haben die darlegung W.scher gedanken zum gegenstande, die in keinem direkten zusammenhange mit meiner rezension mehr stehen. Solches verfahren zeugt gewiss von einem guten, versöhnlichen herzen, auch von einem überquellenden drang zur belehrung anderer, was beides nur sympathisch berühren kann; aber von einer logischen beherrschung des diskussionsgegenstandes legt es kaum zeugnis ab.

Logisch ist es auch nicht, wenn W. auf mein verlangen, er hätte den beweis liefern sollen, dass solche methodenkünstelei so wirklich bestehe, in abs. 2 damit antwortet, dass er sagt, auf s. 3 und 4 seiner abhandlung habe er auseinandergesetzt, worin die methodenkünstelei im neusprachlichen unterricht besteht. Die bezugnahme auf s. 3 passt gar nicht, weil W. dort nur sagt, die ansprüche der methodiker seien „überhoch", was nicht zusammenfällt mit methodenkünstelei. Auf s. 4 aber spricht W. tadelnd auch nur von den schriftlichen arbeiten, stellt eine ganze liste verschiedener arten derselben zusammen, lässt verstehen, dass alle, oder wenigstens die meisten reformer anwendung dieser sämtlichen arbeitsformen verlangten, und nennt solche forderungen methodenkünstelei. Ja, das ist ja aber nur ein reines phantasiegebilde W.s, über welches es sich nicht verlohnt zu reden. Und beiläufig forderungen der reformer können bei anklage derselben wegen methodenkünstelei überhaupt nicht in betracht kommen, sondern nur das thatsächlich von ihnen oder der mehrzahl derselben geübte lehrverfahren. So lange aber W. nicht den nachweis liefert, wo und von wem das kritisirte lehrverfahren ausgeübt werde, ist es zeitverschwendung, seine kritik desselben zu lesen.

Mangel an logischem verständnis bekundet es auch, wenn W. in abs. 3 sagt, dass ich seine behauptung, die reformer trieben methodenkünstelei, zugäbe, indem ich davon spreche, dass eine vollständige darstellung jedweder methode [auf den unkundigen] erdrückend, zerstreuend, gekünstelt“ wirke.

In abs. 4 behauptet W., es bestehe kein widerspruch, wenn er auf derselben seite die im unterricht frei schaffende persönlichkeit des lehrers feiere und gleichzeitig den umstand tadle, dass die neusprachlichen lehrer sich frei ihre lektüre wählen dürfen und dabei eine grosse mannigfaltigkeit in der wahl zu trage tritt. Nun, findet W. hierin

Ich zitire nach absätzen, indem ich die von W. hier aus seiner abhandlung nochmals abgedruckte these mit zu absatz 4 rechne.

wirklich keinen widerspruch, so ist es wohl besser, dass ich lieber über andere dinge mit ihm spreche, z. b. über seine bezugnahme auf die lehrer des deutschen und der alten sprachen. Sieht er thatsächlich nicht, dass diese kollegen in einer ganz andern lage sind als die neusprachlehrer? Aus der klassischen litteratur sind nur so wenig reste erhalten geblieben, dass von einer sehr verschiedenartig zu treffenden auswahl für die schule gar nicht die rede sein kann. Und der muttersprachliche unterricht hat in allen ländern auf den oberen stufen die aufgabe, den schüler mit den ersten dichtern der nation vertraut zu machen: welches aber diese sind, darüber ist eine meinungsverschiedenheit nicht wohl möglich. Für den fremd-(neu-)sprachlichen unterricht dagegen bildet der litterarische gesichtspunkt nur einen unter mehreren andern.

Auch der von W. in abs. 5 erhobene einwand ist unberechtigt. Wenn er bei der bekämpfung der methodenkünstelei, die der titel erwarten lässt, aussprachebehandlung und schriftliche arbeiten der reformer kurz (2 s.) abthut, um sich dafür um so breiter (5 s.) mit der frage von der lektüre zu beschäftigen und hier ausschliesslich nur vom gedankeninhalt der schriftsteller zu reden, so kann er ja gar nicht deutlicher zeigen, dass er diesem eine überwiegende bedeutung beilegt. Andernfalls hätte er es wohl für der mühe wert finden müssen, auch den sachinhalt und die frage von der sprachaneignung in betracht zu ziehen und die methodenkünstler auch auf diesen gebieten zu bekämpfen. Unwissenschaftlich habe ich W.s abhandlung darum genannt, einmal weil er durchweg seiner erörterung nur behauptungen zu grunde legt, nicht thatsächlichen nachweis, und zweitens weil es seiner darstellung in auffallendem masse an ordnung gebricht.

T

Stilistisch bemerke ich noch, dass man an einer abhandlung nicht ,rezension ausübt“ (abs. 1), sondern ,kritik übt“.

Soweit meine antwort“. Zur frage der lektüremannigfaltigkeit muss ich gestehn, dass ich keinen grossen schaden darin finden kann, wenn wir aus der fülle einer modernen litteratur recht verschiedenartiges herausgreifen, vorausgesetzt nur, dass für jeden gewählten schriftsteller gute didaktische, pädagogische und kulturelle gründe sprechen.

Wenn sodann W. in dem nicht der „erwiderung" gewidmeten teile seiner obigen äusserung von einer mächtigen reaktion gegen die reformbewegung spricht, so mögen ihn ja vielleicht wahrnehmungen in seiner engeren und engsten umgebung hierzu berechtigen. Wer aber mit seinem blick auch die entwicklung in Frankreich, England und den drei skandinavischen staaten umfasst, der weiss, dass von einer ernstlichen reaktion nicht die rede sein kann. Die politique mondiale der kulturstaaten und der zukünftige charakter des neusprachlichen unterrichts stehen in engster verbindung zu einander.

Rendsburg (Holstein).

H. KLINGHARDT.

« PreviousContinue »